Reset im Kopf – Mein Meditationstagebuch

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„Warum tust du immer diese merkwürdigen Dinge?“, fragte meine Mutter verständnislos als ich ihr von der geplanten Teilnahme an einem 10 Tage Vipassanā-Meditationskurs erzählte. Sie klang beunruhigt und ich vermutete, dass in ihren Vorstellungen das beitreten einer Sekte Grundvorraussetzung für einen Meditationskurs war. Vermutlich malte sie sich grade aus, wie ich wilde Sexorgien mit einem Guru feierte, bevor wir uns fröhlich in den Freitod stürzten. Ja, wieso tue ich eigentlich diese merkwürdigen Dinge, wenn nicht wegen der Sexorgien? Was bewegt mich dazu, für zehn Tage eine Schweigegelöbnis abzulegen, um 4 Uhr aufzustehen und täglich elf Stunden zu meditieren?

Meditation ist für mich ein wichtiges Werkzeug, das ich für ein gutes Selbstmanagement brauche. Dank Meditation bin ich der Herr meines inneren Dialogs und nicht das Opfer meiner Gedanken. Tatsächlich denke ich nämlich sehr viel. Da ist nicht nur eine Stimme in meinem Kopf, die es zu kontrollieren gilt. Ich führe ganze Podiumsdiskussionen mit mir selbst – und im Hintergrund spielt dazu noch Musik. Ein Kopf, der so laut ist, macht es nicht einfach Körper, Geist und Seele in Einklang zu halten. Deshalb habe ich mir angewöhnt, in regelmäßigen Abständen für Ruhe zu sorgen. Erst durch diese Ruhe habe ich den inneren Frieden und die Ausgeglichenheit, die ich für ein gesundes Selbstbewusstsein brauche. Ein Selbstbewusstsein, welches unabhängig von der Meinung anderer oder der Bestätigung durch außen ist. Die meisten Leute verwechseln Ego und Selbstbewusstsein. Doch das ist ein Denkfehler mit schweren Folgen: Das Ego braucht ständig die Bestätigung von außen und dadurch wird man leicht zu manipulieren – und außerdem sehr unzufrieden, wenn man die gewünschte Bestätigung nicht bekommt. Doch das Selbstbewusstsein ist unabhängig von andren. Unsere Mitmenschen können uns für den großartigsten Menschen halten und uns das auch immer wieder bestätigen, doch das alles ist nichts wert, wenn wir nicht selbst auch so über uns denken. Wer selbst nicht an sich glaubt, der braucht die Bestätigung von Menschen, die an  ihn glauben. Ich selbst habe das lange nicht verstanden. Umso wichtiger ist mir heute ein unabhängiges Selbstbewusstsein, welches mir ermöglicht mich und meine Standpunkte immer gut zu vertreten. Doch um seinen Standpunkt gut zu vertreten, muss man ihn kennen und das setzt voraus, sich selbst gut zu kennen. Es gibt nicht viele Möglichkeiten sich selbst gut kennenzulernen, doch Meditation ist eine davon und darum hatte ich mich entschlossen, meine Meditationspraxis in einem 10-Tage Vipassanā-Meditationskurs zu vertiefen.

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Vipassanā ist ein Wort aus der mittelindischen Sprache Pali. Es bedeutet so viel wie „die Dinge sehen, wie sie wirklich sind‘. Die Techniken gehört zu den ältesten Meditationsformen Indiens und soll es dem Praktizieren ermöglichen, die Realität so anzunehmen, wie sie ist – ohne das Verlangen, sie so verändern zu wollen, wie man selbst sie haben will. Bisher habe ich mich mit der Realität eher abgefunden. Sie nicht ändern zu wollen resultierte eher aus Resignation als aus Gleichmut, denn ich fand die Realität oft scheisse, wie sie war. Doch ich wollte unbedingt lernen, die Realität zu akzeptieren. Um diesen Wunsch nachzuvollziehen muss man vielleicht wissen, dass ich an mich den Anspruch habe ein Mensch zu sein, der gibt ohne dabei etwas zurück zu erwarten und der immer freundlich bleibt, auch wenn mein Gegenüber eigentlich einen Schlag ins Gesicht verdient hätte. Ich möchte so ein Mensch nicht aus Selbstlosigkeit sein. Ich möchte so ein Mensch sein wegen dem Nutzen für mich! Während Kendrick Lamar droht: „Bitch don’t kill my vibe!“, wollte ich ein Mensch sein, dessen Vibe keine bitch zu killen vermochte.IMG_4663 Dieser Wunsch brachte mich nun in die Meditationshalle, in der ich nun mit ca. 150 anderen Teilnehmern die Regeln für die kommenden Tage vorgelesen bekam: Keine Rauschmittel, keinen Sex (was auch schwierig geworden wäre, da Männer und Frauen getrennt untergebracht wurden), nicht stehlen, nicht lügen (wie auch, wenn man nicht reden darf) und nicht töten (stellte ich mir zu diesem Zeitpunkt noch einfach vor, würde aber in der kommenden Tagen noch Mordgelüste und den Wunsch nach Körperverletzung anderer entwickeln). Wir waren aufgefordert eiserne Disziplin und Unterwürfigkeit zu versprechen. Ich muss ehrlich zugeben, dass ich für beides nicht grade bekannt bin. Am Ende des Vortrags wurde wir daran erinnert, dass wir uns verpflichteten, den Kurs durchzuziehen. Ein Abbruch wurde nicht geduldet. Der Redner erzählte von den hohen Mauern des Zentrums in Indien, weil immer wieder Leute versuchten zu fliehen. Man machte deutlich, dass man uns auch hier nicht das Einverständnis geben würde, einfach so wieder zu gehen. Ich nahm diese Androhung von Freiheitsentzug allerdings mit Humor. Wenn ich gehen wollte, dann würde ich ganz sicher nicht um Erlaubnis fragen. Ich hatte eine lange Liste von Veranstaltungen, VIP & Backstage Areas und Clubs vorzuweisen, bei denen ich rausgeschmissen wurde. Ich war ein absoluter Vollprofi wenn es darum ging eines Geländes verwiesen zu werden. Ich nahm die Drohung also gelassen, denn wenn ich gehen wollte, dann wäre die Leitung eines Meditationszentrums ganz sicher das kleinste Hindernis für mich. Doch, wie die illegalen Besetzer eines Hauses, war ich ja gekommen um zu bleiben.

Tag 1

Um 4 Uhr morgens erklang der Gong und ich war angenehm überrascht von mir, denn ich stand tatsächlich auf. Ich duschte, putzte die Zähne und begab mich in die Meditationshalle. Als Morgenmuffel ist vor 8 Uhr jedoch wirklich nichts mit mir anfangen und selbst vor 10 Uhr sollte man von mir nicht zuviel erwarten. In der Regel bleibe ich bis Mittag wortkarg und ungesellig. Keinen Kaffee trinken zu können, macht das alles nicht unbedingt besser. Es verwunderte mich daher nicht, dass ich bereits kurz vor Meditationsbeginn einnickte. Ich überlegte, ob man wohl bereits am ersten Tag Disziplin von mir erwartete? Doch mein Verstand und ich waren uns schnell einig, dass das pünktliche Aufstehen genug Disziplin für heute war. Ich saß hier und das ohne Kaffee! Wie viel disziplinierter soll’s werden?! Ich beschloss deshalb mich auch nicht gegen den Drang einzuschlafen zu währen und döste fast die ersten zwei Stunden durch. Trotzdem wertete ich den Einstieg als vollen Erfolg: Ich stand um 4 Uhr auf! Ich fand mich super!

Tag 2

Ich gebe zu, dass ich mich anfangs wenig auf mich selbst konzentrierte. Wie auch? Ich war ja sehr damit beschäftig, die anderen Teilnehmer zu mustern. Meditierende werden gerne in die Schublade der Esoteriker gesteckt. Ich selbst stecke sie auch in diese Schublade, weshalb ich mit meiner regelmäßigen Meditationspraxis nicht unbedingt hausieren gehe. Fairer Weise muss ich allerdings sagen, dass ich vom Mix der anwesenden Leute positiv überrascht war. Jede Altersgruppe schien vertreten und keiner der Anwesenden machte auf mich den Eindruck eines weltenverschwörerischen Aluhut-Trägers oder militanten Spiritualisten, die meinen die Welt durchschaut zu haben und deshalb versuchen, ihren Mitmenschen ihre kleingeistigen Ansichten aufzuzwängen. Doch auch wenn man ein Buch nicht nach seinem Einband beurteilen soll, erschien mir das auf den ersten Blick alles ’normale‘ Leute. Optisch war die Gruppe eine witzige Mischung aus ‚backpacking Asien‘ und Sportleistungskurs. Aber was soll man bei einem Kurs wie diesem auch bequemes tragen, wenn nicht die Harems- oder Jogginghose?! Diejenigen unter uns, die nicht bereits die Südostasien Route des Lonely Planets gereist sind, werfen den ersten Stein. doch ich hatte selbst kurz in Erwägung gezogen, mein ‚Tubing in Vang Vieng“-Shirt einzupacken.

Tag 3

‚Normal‘ mochten alle Teilnehmer sein, doch ich fand auf keinen Fall alle sympathisch! Durch das Redeverbot bleibt man ja auch in den Pausen sein einziger Gesprächspartner und hat gar nicht die Möglichkeit, die anderen kennenzulernen. Ich bemerkte bereits am dritten Tag, wie sich die Tonalität der Stimme in meinem Kopf änderte. Sie wechselte von genervt zu ironisch und über sarkastisch zu bissigem Zynismus. Mit ihr änderte sich auch die Art und Weise, wie ich von den Anderen dachte. Ich kenne diese Seite an mir. Ich kenne sie sogar sehr gut. Bis Ende 20 konnte man von mir nicht viel mehr als einen dummen Spruch erwarten – da war es auch egal mit wem oder worüber ich sprach. Ich gab mich lieber boshaft als verletzlich. Allerdings glaubte ich diese Art, die ich vor allem als Schutz kultiviert hatte, weitestgehend abgelegt zu haben. Nun kam sie aber wieder zum Vorschein und zwar in ihrer vollen Blüte. Meine innere Stimme kommentierter alles und jeden mit einer schonungslosen Gemeinheit,  die mir selbst fast unangenehm war.  Bissige Ironie ist wie Fahrrad fahren, man verlernt das nicht – man entscheidet sich nur bewusst dagegen. Es ist nichts Verkehrtes daran, einen unnötigen Spruch auch mal runterzuschlucken – ganz besonders, wenn man andere damit verletzt. Gegen eine Handvoll Teilnehmerinnen hatte ich jedoch eine Abneigung entwickelt und diese Personen kommentierte ich nun mit jenen dummen und unnötigen Sprüchen als hätte ich mich seit der Pubertät nie weiterentwickelt. Ich erwischte mich sogar dabei, wie ich in meinen Gedanken eine von ihnen mit meiner Teekanne verprügelte, nur weil sie ihre Teekanne nicht schnell genug auffüllte. Besonders schlecht fühlte ich mich aber als ich mich bei der Frage ertappte, ob es übertrieben wäre meiner Sitznachbarin in der Meditationshalle einfach die Nase anzubeißen. Ich fand sie eigentlich ganz nett, sie war jedoch stark erkältet und putzte sich ständig  die Nase. Das nervte mich derart, dass ich den ‚MikeTyson‘ ernsthaft als Lösung in Erwägung zog. Ich fühlte mich wie ein sehr, sehr schlechter Mensch!

Der Abendvortrag, in dem täglich ganz allgemein über die Phasen referiert wurde, in denen wir uns planmäßig befinden müsste, beruhigte mich jedoch ein wenig. „Sie haben sich heute vielleicht vor sich selbst erschrocken und Seiten an sich entdeckt, die sich von sich noch nicht kennen. Das ist gut! Es zeigt, dass sie den Prozess planmäßig durchlaufen. Nun kommt alles in ihnen hoch, was sie unterdrücken wollten!“, erklärte der Lehrer. Ich fragte mich, was wohl bei in den anderen derzeit hochkam und versuchte in den Gesichtern der Teilnehmer ihren emotionalen Zustand zu lesen. Ich teilte mir mein Zimmer mit zwei weiteren Frauen und zumindest die Blonde sah aus, als wäre sie ebenfalls in Stimmung für eine gepflegte Kneipenschlägerei.

Tag 4

„Nun kommt alles in ihnen hoch, was sie unterdrücken wollten“, diese Worte klangen noch immer in meinen Ohren. Obwohl die Aggressivität langsam abflacht, wollte da scheinbar so einiges in mir hoch. Heute wich die Gewalt allerdings der Erotik. Obwohl Männer und Frauen getrennt untergebracht wurden, war ich extrem in Flirtlaune. In der Meditationshalle schaute ich nach den männlichen Teilnehmern und überlegte, wie groß wohl meine Chancen wären, die Begleitperson eines Rollstuhlfahrers in der Pause klarzumachen. Ich überlegte, ob es das Liebesleben einfacher macht, wenn man einen Yogi-Jungen dated, der total mit sich und der Welt im reinen ist? Dabei bemerkte ich, dass ich selbst auffallend häufig bei den unreifen Szenejungs mit Egoproblemen landete, statt bei dem tiefenentspannten Surfer, den ich mir als perfekten Partner vorstellte. Da man sich unterbewusst schnell von Menschen angezogen fühlt, die etwas kompensieren, was man sich selbst nicht geben kann, war es für mich nachvollziehbar, weshalb mich die Fraktion des mangelnden Selbstbewusstseins für mich interessierte. Aber was wollte ich von ihnen? Obwohl ich einen Mann suchte, der meine Fabelhaft zu schätzen wusste und mit dem ich die Welt erobern und das Leben genießen konnte, wählte ich mit beeindruckender Zielsicherheit die Sorte Mann, der seine Unzufriedenheit an mir auslassen und mir das Leben schwer machen würde. Nix mit Welt erobern. Erstmal konnte ich beim besten Willen wirklich keinen tieferen Sinn dahinter finden, dann kam mir aber der Gedanke, dass diese Männer wie ein Art Personaltrainer für mich sind. Ich wollte, dass niemand meinen ‚Vibe killen‘ kann und das Universum schickte mir die perfekten Männer um das zu üben. Wie war das gleich? Man soll sich gut überlegen was man sich wünscht, denn es könnte Wirklichkeit werden???

Vor lauter Männerthemen vergaß ich sogar fast meine Schmerzen. Durch das Sitzen tat mein ganzer Körper höllisch weh und ich war nicht sicher, wie ich das ohne Morphium bis zum zehnten Tag aushalten sollte. Schnell lenkte ich meine Aufmerksamkeit wieder auf Männer und so begann ich das zu tun was ich immer tat, wenn ich in dieser Position auf dem Boden kniete: Ich dachte an Sex. Für den Rest des Kurses hatte ich unfassbar guten Geschlechtsverkehr, der mich alle Schmerzen vergessen ließ – zumindest in meiner Phantasie.

Tag 5

Der fünfte Tag war wirklich nicht einfach für mich. Ich hasste alles und jeden. Ganz besonders hasste ich das dämliche gechante von S.N. Geonka, welches zu den Hauptmeditationen eingespielt wurde. Der Mann war nicht in der Lage auch nur einen beschissenen Ton zu treffen! Außerdem mochte ich seine Stimme nicht. Ich mochte auch die Art wie er die Silben betonte nicht. Jeder einzelne Ton, den der indische Großmeister von sich gab, trieb mir die Hassfalten ins Gesicht. Wollten die mich verarschen? Wie soll man unter diesen Umständen in Ruhe meditieren? Ich unternahm erfolglose Versuche mir einzureden ich sei auf einem experimentellen Indi-Rap-Konzert in der Berghain Kantine, doch das machte es nicht besser. Was Musik angeht bin ich sehr sensibel und ein regelrechter Geschmacksnazi. Dieser Gesang klang für mich wie der von Eddie Murphie im Film ‚Auf der Suche nach dem goldenen Kind‘ – nur hieran war nichts witzig und ich konnte dem Gejaule nicht entfliehen.

Ich hatte einen richtigen Durchhänger und ich war so wütend auf mich selbst. In meinem Kopf war es merklich ruhiger geworden, dennoch blieb eine Stimme und diese schimpfte wütend: „Ein Meditationskurs? Ganz tolle Idee Jessica! Was wäre denn an einem Surfurlaub so verkehrt gewesen??? Meer, Sonne, Surfer… Aber nein, du wählst die Variante wo man um 4 Uhr aufstehen muss um dann elf Stunden in einer Halle mit geschlossenen Augen auf einem scheiss Kissen zu sitzen… völlig genial! Danke für nichts!“ Tatsächlich wäre ich sehr gerne nach Hause gefahren und dass das Wetter schlecht war, machte alles nur noch schlimmer. Ich merkte einmal mehr, wie extrem abhängig meine Laune vom Wetter war. Wir hatten nur zwei Stunden Pause am Tag und die verbachte ich mit einem Spaziergang in der Sonne. Das war mein Tageshighlight. Was sollte ich auch sonst machen? Doch heute regnete es und ich musste mir etwas anderes einfallen lassen. Ich stellte mich also an das Fenster und starrte auf den Hof. Ich fühlte mich wie meine Oma. Die hat auch immer aus dem Fenster gestarrt. Fehlte nur noch das Kissen, welches sie unter die Arme legte, damit kein Druck auf den Unterarmen sie davon abhalten konnte, den ganzen Tag dumm aus dem Fenster zu starren. Sie könnte ja was wichtiges verpassen. Ich überlegte ob meine Oma wohl auch aus dem Fenster gestarrt hatte, weil ihr einfach nichts besseren einfiel, womit sie ihre Zeit hätte gestalten können… Neben ‚aus dem Fenster starren‘ zählten aber auch ‚Fingernägel puhlen‘ und ‚Haare kämmen‘ zu meinen top Freizeitbeschäftigungen bei schlechtem Wetter. Haare kämmen bereitete mir wirklich große Freude! Wahrscheinlich hatte ich in 35 Jahren noch nie so oft meine Haare gekämmt wie in dieser Zeit. Haare kämmen gab mir das Gefühl etwas wirklich sinnvolles mit meiner Freizeit anzufangen. … es war so erbärmlich. Ich wollte nur nach Hause!

Tag 6

So langsam begann ich mein Schicksal anzunehmen und mit der Akzeptanz stieg meine Laune. Ich bekam an diesem Tag die Lektion, dass ‚annehmen‘ wirklich der Schlüssel für Veränderung ist. Am Morgen tat mir mein ganzer Körper noch unfassbar weh. Meine Beine. Mein Po. Meine Knie. Mein ganzer Rücken. Alles schmerzte und der Schmerzen zogen sich hoch bis zum Nacken und den Ohren. Durch das Schweigen konnte ich jedoch keinem von meinem Leid erzählen und mittlerweile kotzte mich mein ‚mir tut alles weh‘-Gejammer selbst an. Just in dem Moment als ich zu mir selbst sagte:“Hör gefälligst auf zu jammern und scheiss drauf! Dir tut alles weh – und?? Es wird dir auch noch bis zum letzten Tag weh tun! Find dich damit ab! Ist jetzt halt so“, hörten die Schmerzen auf. Einfach so. In dem Moment als ich aufhörte mich zu wehren, änderte sich alles. Ich war völlig beeindruckt.

Langsam begannen sich auch meine Sinne zu schärfen. Der Hörsinn machte den Anfang. Durch die Stille und das konzentrierte meditieren nahm ich jedes Geräusch sehr laut war. Doch auch die anderen Sinne erschienen viel ausgeprägter. Mehr als mein Geschmackssinn faszinierte mich meine Fähigkeit zu fühlen. Dadurch, dass ich nicht mit den anderen Teilnehmern reden konnte, achtete ich sehr auf ihre Ausstrahlung. Ob ich jemanden als sympathisch oder unsympathisch bewertete basierte allein auf der ‚zwischenmenschlichen Chemie‘. Nun begann ich die Nähe der Leute viel stärker zu fühlen. Selbst wenn ich mit dem Rücken zu ihnen stand und sie nicht sehen oder hören konnte, konnte ich sie ‚fühlen‘. Als großer Superheldenfan freute mich über diese gesteigerte Sinneswahrnehmung wie ein kleines Kind, denn es war für mich wie ‚Superheldenkräfte entwickeln‘. „Muah Jessica ernsthaft?“, versuchte die Stimme der Vernunft mir meine Freude zu verderben. „Ist jetzt schon ein bisschen viel Enthusiasmus nur weil du vielleicht etwas besser reichen kannst und so!“. Aber ich fand mich sehr superheldenhaft und überhaupt fand ich alles super. Ich war sehr glücklich und zufrieden und dachte: „Das Leben ist wirklich schön! Und im Grunde ist alles perfekt, wie es ist. Ich würde es grade nicht anders haben wollen!“. „Oha!“, meldete sich die Vernunft mit einem sarkastischen Unterton: „Na, dann sind wir ja mal gespannt wie lange du alles so perfekt findest, wenn wir hier nicht mehr im Eso-Camp feststecken!“ Schon verrückt was die Vernunft für ein dummes Arschloch ist! Kein Wunder das die, die zu oft auf sie hören, ein unzufriedenes Leben in der lauwarmer Mittelmäßigkeit führen.

Tag 7

Ich habe seit jeher große Freunde am Experimentieren mit Bewusstseins- und Sinneszuständen. Wie ich das in meiner Jugend herstellte, möchte ich an dieser Stelle nicht näher erörtern. Mit Meditation hatte das alles aber nicht viel zu tun. Ich hatte also Referenzerfahrungen, die sehr viel intensiver waren als das, was ich grade erlebte. Trotzdem war ich überwältigt zu sehen, wozu ich bzw. mein Körper von ganz alleine fähig waren.

Besonders fasziniert war ich davon, die Ausstrahlung oder Energien anderer Menschen deutlicher wahrzunehmen. Mir fiel auf, dass ich besonders Menschen die ich mochte, intensiver fühlen konnte. Ebenfalls nahm ich Menschen verstärkt wahr, gegen die ich eine Abneigung hegte. Die Ausstrahlung der Teilnehmerinnen, deren gegenüber ich neutral eingestellt war, nahm ich dagegen auch weniger stark wahr. Die unterschiedlichen Ausprägungen wurden mir beim Spaziergang bewusst. Das Spazierengehen war nur auf einem abgegrenzten Gelände erlaubt, weshalb wir wie die Knastis bei Hofgang immer unsere Runden auf dem Feld drehten. Dieser Rundgang führte durch ein kleines Stück Wald und ich wusste, weil ich es fühlte, dass eine Teilnehmerin in diesem Wald sein musste. Obwohl ich sie nicht sehen konnte, konnte ich ihre Anwesenheit doch fühlen – dabei betrug die Entfernung sicher 500m.

Tag 8

In der Meditation machte ich Fortschritte. Ich konnte schmerzfrei locker eine Stunde sitzen ohne mich zu bewegen und konzentriert und fokussiert meditieren. Durch meine regelmäßige Praxis hatte ich auch nach den Meditationen immer öfter Sekunden von ’no mind‘ in denen kurz Stille in meinem Kopf herrschte. Stille im Kopf ist leider nicht einfach zu halten. Jedes Mal wenn ich sie bemerkte, dachte ich:“Geil! Ruhe… ach nee… doch nicht. Jetzt hast du wieder gequatscht…“

Auch auf die Gefahr hin mich zu wiederholen, fand ich das Phänomen die Anwesenheit anderer Menschen trotz Distanz fühlen zu können interessanter als das Meditieren an sich. Wo hat man denn auch sonst die Gelegenheit die ‚Chemie zwischen zwei Menschen‘ so ungestört zu untersuchen? Fakt war, dass ich die Unsympathen auch milen gegen den Wind spürte. Noch bevor ich einen von ihnen sah beobachtete ich wie Gedanken in mir aufkommen wie: „Na toll. Gleich kommt wieder das Tränengesicht…“. Eine Weile später kam das Tränengesicht dann auch wirklich. Das Tränengesicht war eine Frau in der Mitte ihrer Fünfziger. Ich hatte sie noch keinen Tag lachen sehen. Ständig guckte sie als ob Jesus ihr sein Leiden direkt vererbt hätte und als würde sie nun die Last der Menschheit auf ihren Schultern tragen. Ich versuchte meine Abneigung unter Kontrolle zu halten, denn zweifellos hat jeder ein Päckchen zu tragen, von dem man nichts weiss, daher sollte man Verurteilungen möglichst vermeiden. Doch es fiel mir wirklich schwer. Ich versuchte Verständnis aufzubringen, doch am Ende dachte es jedes Mal wieder:“… es ist bestimmt alles nicht so einfach im Leben, aber so dumm zu gucken macht sicher nichts besser!“. Ich versuchte herauszufinden, weshalb sie mir so unsympathisch war. Es war ihre ganze Körpersprache – alles in ihr sagte ‚Opfer‘. Sie ging gebückt, guckte traurig, schnaufte oft leidvoll und stand immer planlos im Weg rum. Mit Menschen, die so bereitwillig ihre Opferrolle annahmen ohne den Versuch zu unternehmen etwas zu ändern, hatte ich tatsächlich Probleme. Meine Mutter zeigte gelegentlich ähnliche Wesenszüge und wir geraten jedes Mal böse aneinander! Das Leben ist sicher nicht immer leicht und dann hat man auch alles Recht der Welt drüber zu klagen. Auf das Klagen sollte dann aber auch ein Versuch kommen, etwas zu verändern. Leider belassen es die meisten Menschen nur beim Klagen. Sie klagen und gehen mir damit auf die Nerven!

Ich mochte das nicht! Tatsächlich unterstelle ich den meisten dieser Menschen, dass sie gar nichts an ihrer Situation ändern wollen. Sie wollen eigentlich nur jammern. Wäre alles in Ordnung, dann hätten sie keinen Grund zu jammern. Jammern bedeutet aber Aufmerksamkeit und wie Kinder schreien sie danach, damit man sich um sie kümmert. Das Gute in ihrem Leben nehmen sie kaum wahr. Ich habe das bei meiner Mutter getestet, denn bei unseren wöchentlichen Telefonaten war sie nur am jammern: Job scheiße, Kollegen scheiße, sie war immer krank, genau wie unsere Nachbarn… nur Gejammer. Und jede Woche das Gleiche. Nach einer Stunde Telefonat wurde ich selbst ganz depressiv. Ich fragte sie deshalb, ob sie denn auch versucht hätte mal was zu ändern? Doch das hatte sie nicht. Dafür hatte sie viele Ausreden weshalb sie nichts ändern konnte und es deshalb auch gar nicht erst versuchen müsste… Unzufrieden zu sein und darauf zu warten, dass sich die Welt von alleine nach den Vorstellungen ändert während man selbst dafür keinen Finger dafür krümmt, ist eine so saudämliche Strategie das ich mit solchen Menschen auch kein Mitleid haben kann. Meine Mom war da keine Ausnahme und deshalb sagte ich ihr irgendwann, dass ich zukünftig nur noch mit ihr telefonieren möchte, wenn sie auch etwas Gutes zu berichten kann. Sie meldete sich daraufhin viele Wochen nicht.

Leidende Menschen ohne den Willen zur Veränderung sind für andere Menschen sehr belastend und Tränengesicht sah aus wie eine Last – und deshalb mochte ich sie nicht! So! … und um es gleich klarzustellen: Das war total dumm und arrogant von mir! Denn es war Tränengesicht die mir die Lektion erteilte niemals das Urteil, das man über eine Person gefällt hat als ‚in Stein gemeißelt‘ anzusehen. Wenn man schon so überheblich ist zu urteilen, dann sollte man immer offen dafür bleiben, seine Ansichten zu korrigieren.

Am letzten Tag, wenn wir wieder reden dürften, würde sich Tränengesicht beim Essen neben mich setzen und mich fragen, weshalb ich einen solchen Kurs mitmachte. Ich würde es ihr leicht genervt erklären und sie aus Anstand, nicht aus Interesse, dasselbe fragen. Sie würde mir dann verraten, dass sie sehr unzufrieden mit sich und ihrem Leben ist und bereits einiges ausprobiert hatte, um diese Unzufriedenheit zu überwinden. Sie würde mir weiter gestehen, dass sie mit dieser Unzufriedenheit auch ihre Familie nervt, weshalb ihr Sohn ihr nun zu diesem Kurs geraten hatte. Sie würde mir auch verraten, dass sie ganz sicher niemanden nerven oder belasten wollte und ihr  diese Technik überraschend gut geholfen hatte mit sich klar zu kommen. Sie war voller Hoffnung durch sie auch im Alltag die Balance zu halten. Ich würde großen Respekt vor ihrer Bereitschaft haben an sich zu arbeiten und mich sehr schäbig fühlen, dass ich ihr unterstellt hatte, nicht über diese Bereitschaft zu verfügen. Ich wäre zudem sehr gerührt, dass sie diese sehr privaten Gründe mit mir geteilt hatte. Ich würde ihr aufrichtig dankbar für die Lektion sein, welche sie mir unwissentlich erteilte. Anschließend würde ich sehr lange darüber nachdenken wie es ist, sich wie eine dämliche Kuh zu verhalten und sich dabei keiner Schuld bewusst zu sein. Und ich würde mich fragen welche Wahlergebnisse wohl die AfD erzielen würde, wäre der Mensch nicht zu solch tiefer, dummen und grundlosen Abneigung fähig. … es verdeutlichte mir aber auch, dass sich kein Mensch absichtlich wie ein Idiot verhält. Man weiss es leider nicht besser. Man ‚kann nicht anders‘. Das ist natürlich keine Entschuldigung, aber es ist die Ursache …

Tag 9

Am vorletzten Tag wurde mir bewusst, dass die Zeit der Stille nun bald vorbei ist und mir gefiel das ganz und gar nicht! Wieso gibt es wohl den Ausdruck ‚unangenehmes Schweigen‘? Nichts am Schweigen ist anzunagendem! Ganz im Gegenteil, denn gemeinsam schweigen zu können gehört zu den tiefsten Arten der Verbundenheit. Ich will nicht wissen, wie viele Taxifahrer sich täglich wünschten, dass ihre Fahrgäste einfach nur die Fresse hielten statt uninteressante Geschichten zu erzählen, nur damit es nicht ‚ruhig‘ im Auto ist. Vielleicht ist Ruhe dem Fahrer lieber als zum 1000Mal zu erzählen, wie lange er noch arbeiten muss, wie es als Taxifahrer so ist und ob er gut verdient… und vielleicht interessiert er sich auch kein Stück für die ganzen Geschichten, die er sich bei jeder Fahr anhören muss. Wäre es nicht so unhöflich, dann würde er vermutlich über Kopfhörer Musik hören, nur um einer weiteren Geschichte eines Fahrgastes zu entkomme. Im Prinzip ist reden wie kotzen. Wenn man sich selbst auskotzt mag das erleichternd sein, doch für denjenigen der angekotzt werden ist das alles sehr unschön. Tatsächlich öffnen wir nur selten den Mund um wichtige Informationen weiterzugeben oder um Worte des Dankes, des Lobes, der Anerkennung oder der Wertschätzung zu äußern. Viel zu oft ist das Ziel einer Kommunikation Aufmerksamkeit zu bekommen. Hierbei unterscheide ich im wesentlichen zwei Typen: Menschen mit kleinem Ego und Menschen mit großem Ego. Letztere reden ständig darüber, wie toll und wichtig sie sind. Sie erzählen dir, was sie alles haben und was sie alles können und wen sie alles kennen – nur für den Fall das du es nicht selbst schon  bemerkt hast. Die Menschen mit kleinem Ego sind dagegen die Leidenden (hier unterscheide ich Menschen mit der Bereitschaft etwas an ihrer Situation zu ändern und denen, die einfach nur leiden und bemitleidet werden wollen), bei denen läuft immer alles scheiße, jeder ist gemein und die Welt im allgemeinen sehr ungerecht. Kleine Egos haben auch die Tratschtanten, die sind aber zu stolz das zuzugeben und lenken lieber mit den Geschichten anderer von sich ab. Ist ja auch viel einfach über andere zu reden, statt vor der eigenen Türe zu kehren. Doch unterm Strich wollen alle drei Typen nur eins: Aufmerksamkeit. So gesehen ist es fast tragisch, dass kaum jemand aktiv zuhört – selbst die Tratschtanten hören nur, was sie hören wollen.

Sokrates hatte einst drei Punkte formuliert, über die es sich nachzudenken lohnt bevor man seinen Mund öffnet:

  1. Sind wir uns sicher, dass es wahr ist, was wir sagen wollen?
  2. Sind unsere Worte von Güte geprägt?
  3. Ist es notwendig, dass wir sie aussprechen?

Sokrates fehlt mir! Mir fehlen auch Leute wie Willemsens, Bowie oder Lemmy… das Jahr ist noch jung und doch sind viele großen Geister und Querdenker von uns gegangen. Die nachfolgende Generation hat geistig nicht viel im Angebot um entstehende Lücken zu füllen. Für die Minderheit, die gewillt ist sich auch über Netflix hinaus zu bilden, finde ich Angebote wie den Vipassanā-Kurs deshalb wichtig und wertvoll. Nur wer sich selbst kennt, kann eigenständig denken und ist keine Last für sich und andere.

Tag 10

Nach der Morgenmeditation des letzten Tages wurde es ernst: Wir durften wieder reden. Auf dem Weg von der Meditationshalle zu den Unterkünften hörte ich bereits das Stimmengewirr im Hof und bemerkte sofort, dass ich mich nicht bereit für die Realität fühlte. Es war ein ähnliches Gefühl, wie wenn man nach einem Wochenende im Berghain plötzlich wieder bei Tageslicht auf der Straße steht und nun den Heimweg mit den öffentlichen Verkehrsmitteln antreten will: Man fühlt sich irgendwie durch und ist überfordert mit diesem Zuviel an Realität.  Obwohl man weiss, dass man ihn früher oder später antreten muss, erscheint Heimweg unendlich weit und die Herausforderung viel zu groß sie zu meistern. Auch jetzt fühlte ich mich nicht bereit für den Heimweg. Ich entschloss mich daher zu einem Spaziergang als Flucht. Schnell holte ich meine Jacke aus dem Zimmer. Überall waren Menschen und sie redeten extrem laut, jedenfalls empfand ich es als extrem und laut. Als ich das Haus unauffällig durch den Hintereingang verlassen wollte kam mir plötzlich ein Mann entgegen. Er grüßte freundlich, doch ich nickte nur kurz zurück. Er überholte mich um mir die Türe zum Garten aufzuhalten. Ich lächelte und sagte: „Danke“. Dies war mein erstes Wort nach 10 Tagen des Schweigens. Ich war ganz glücklich darüber, denn es gibt blödere erste Worte als „danke“.

Abschließend bleibt zu sagen, dass ein 10-Tage Vipassanā-Meditationskurs kein Kindergeburtstag ist. Die Erfahrung ist nicht ’schön‘ und sie macht obendrein keinen Spaß. Es ist auch kein Urlaub, auch wenn man sich im Anschluss sehr erholt fühlt. Vielmehr ist der Kurs eine einzigartige Gelegenheit um in sich zu gehen und um wertvolle Erkenntnisse über sich selbst und das Leben zu gewinnen. Das Meditationszentrum ist ein ‚Lazarett im mentalen Krieg‘, um mir die perfekt geflügelten Worten des Rappers Curse zu leihen. Ein Zufluchtsort, weil es in der Hektik des Alltags weder die Ruhe noch den Raum gibt, um den Kopf völlig zu resetten und den Geist auszubalancieren. Teilweise habe ich mich wirklich durch das Programm gequält, doch ich weiss, ich werde es wieder tun.

Weitere Informationen über die Vipassanā-Technik und zum Kursangebot  www.dvara.dhamma.org

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